Une Jeunesse Allemande - Eine deutsche Jugend
Eine kurze Geschichte der Radikalisierung
Altbekanntes neu gesehen: Der Franzose Jean-Gabriel Périot wirft einen Blick auf ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. In Une Jeunesse Allemande – Eine deutsche Jugend montiert er Archivmaterial zu einer kurzen Geschichte der RAF.
Ulrike Meinhof, Journalistin und Publizistin. Gudrun Ensslin, Tochter eines protestantischen Pastors, studierte Volksschullehrerin. Jan-Carl Raspe, diplomierter Soziologe. Andreas Baader, Schulabbrecher, Hochstapler, Kleinkrimineller. Erklärungsversuche, was diese Lebensläufe verband, warum sich Teile der deutschen Studentenschaft und des Bürgertums in den 1960ern radikalisierten, 1970 die Rote Armee Fraktion (RAF) gründeten und die Bonner Republik mit Terror überzogen, gibt es viele. Das weiß auch Jean-Gabriel Périot. Für seinen Dokumentarfilm wählt der 1974 geborene Regisseur einen anderen Ansatz. In Une Jeunesse Allemande – Eine deutsche Jugend äußern sich keine ehemaligen Weggefährten in Retrospektive, keine Historiker, keine Experten. Stattdessen lässt Périot die Beteiligten selbst zu Wort kommen – und schlägt formal einen kompromisslosen Weg ein.
Périot verwendet ausschließlich Archivaufnahmen. Über 1.000 Stunden Material hat der Regisseur nach eigener Aussage dafür gesichtet. Daraus hat er eine eineinhalbstündige Collage aus Nachrichtenbeiträgen, Filmausschnitten und Fernsehsendungen geformt. Kein einordnender Kommentar aus dem Off, keine erklärenden Bauchbinden lenken von den Bildern ab. Wenn Tonbandmitschnitte aus den Gerichtsprozessen der RAF-Mitglieder zu hören sind, bleibt die Leinwand schwarz. Périot macht nur eine Ausnahme: Ist einer der Protagonisten zum ersten Mal zu sehen, friert der Regisseur das Bild kurz ein, um dessen Namen auf der Tonspur zu nennen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Zugeständnis an das internationale Publikum, das mit der Geschichte und den Gesichtern der RAF weit weniger vertraut sein dürfte als das deutsche.
Vom Anfang der 1960er bis zu Rainer Werner Fassbinders Beitrag zum Omnibusfilm Deutschland im Herbst (1978) reichen die Bilder. Viele sind altbekannt, einige neu oder zumindest in dieser Kombination noch nicht gesehen. Neben kritische Fernsehbeiträge der Journalistin Ulrike Meinhof über die westdeutsche Wirklichkeit und experimentelle Kurzfilme der frisch gegründeten Film- und Fernsehakademie in Berlin (dffb), in denen als Protagonistin auch Gudrun Ensslin auftaucht, stellt Périot die Aussagen deutscher Politiker, Schriftsteller, Professoren und Bürger. Einerseits folgt die Collage den Ereignissen chronologisch. Durch Périots kluge Montage kommentieren sich die Bilder andererseits stets gegenseitig. Ein (subjektiver) Rekonstruktionsversuch westdeutscher Befindlichkeiten.
In den Diskussionsrunden der Fernsehanstalten sitzen alte Männer in Anzügen neben Ulrike Meinhof. Eine Zigarette in der Hand bringt diese junge Frau ruhig ihre Argumente vor, verteidigt etwa die Versammlungsfreiheit. Ihr Ton ist bedacht, nie emotional oder hitzig, dafür unnachgiebig. Meinhofs Kausalketten sind sachlich und klug. Einige Minuten und zahlreiche Archivaufnahmen später rechtfertigt diese Frau ebenso nüchtern den Terror. Wie es dazu kommen konnte, darauf kann auch Une Jeunesse Allemande keine Antwort liefern. Den Weg dorthin zeichnet diese Dokumentation jedoch minutiös nach. Périots Film zeigt, wie die Aussagen der Beteiligten sich Stück für Stück verschieben – und was diese Radikalisierung mit einer ganzen Gesellschaft macht.
Man solle die RAF-Mitglieder auf der Flucht erschießen oder am ersten Baum aufhängen, fordern nicht wenige Bürger vor laufenden Fernsehkameras. Sind diese Forderungen Reaktion auf den Terror oder dessen Nährboden? Waren sie bereits vorher in der Gesellschaft vorhanden und brechen sich angesichts der Bedrohung durch die RAF nun bahn oder haben sich die Bürger erst mit den Taten der RAF auch in ihren Forderungen nach deren Bestrafung radikalisiert? Und wie ist es beinahe vier Jahrzehnte später um die Gewaltbereitschaft in der Demokratie bestellt? Auch diese Fragen wirft Périots Film auf. Der Zuschauer ist aufgefordert, intensiv darüber nachzudenken.
Falk Straub
Kino Zeit
21.05.2015